Artikel © Rockhard Vol. 455 - Mai 2025
von Marcus Schleutermann
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MASTERS OF REALITY
“spürbar anders”
Sage und schreibe 16 Jahre nach dem letzten Album hat sich Chris Goss noch einmal aufgerafft und eine neue MASTERS OF REALITY-Platte fertiggestellt. Auch wenn er sich mit „The Archer“ bewusst vom Stoner Rock entfernt und dem Blues zuwendet, bleibt seine kompositorische Handschrift mit markanten, hypnotischen Melodiebögen erhalten. Wir erreichen den kauzigen Mastermind in seinem Haus in der südkalifornischen Wüste zur morgendlichen Ortszeit. Obwohl er sich noch im Bett räkelt und den Videocall die meiste Zeit mit geschlossenen Augen führt, ist sein Geist schon wach.
Sein Kopf ist tief ins Kissen gedrückt, eine beige Baseballkappe weit ins Gesicht gezogen, und seine Lieder sind schwer – es ist schon ein etwas bizarres Bild, das seine Handkamera auf meinen Computer wirft, aber auf Konventionen hat Chris noch nie Wert gelegt. Der große Mann mit der sanften Stimme ist ein unangepasster Typ mit Ecken und Kanten, gleichermaßen genial wie streitbar. Aufgewachsen ist er im New York der späten Siebziger zwischen Punk und Disco. Seine Vorliebe für Black Sabbath und Kraftwerk kanalisierte er in den Achtzigern lange vor Nine Inch Nails zu einer innovativen Elektro-Rock-Mischung. Er interessierte sich stark für Esoterik, war von den Theorien des Philosophen und Waldorf-Pädagogen Rudolf Steiner fasziniert und wurde durch ihn in den Bann von Goethes „Faust“ gezogen. Später entschied er sich, in der Musik auf die elektronischen Komponenten zu verzichten und stattdessen mit einer klassischen Rock-Besetzung zu arbeiten.
Das selbstbetitelte Masters of Reality-Debüt wurde 1989 vom nicht minder legendären Rick Rubin produziert und ist ein Meilenstein, der Generationen von Musikern beeinflusst hat.
Die Hochphase des Grunge hätte der Band eigentlich in die Karten spielen müssen, doch 1992 veröffentlichte Chris geradezu aus Trotz mit dem Zweitwerk „Sunrise On The Sufferbus“ ein unbeschwertes Gute-Laune-Album, das der legendäre Cream-Schlagzeuger Ginger Baker mit seinem lässigen Groove vorantrieb.
Und beim letzten Album „Pine/Cross Dover“ konnte er sich nicht für ein Cover und einen Titel entscheiden und wählte deswegen kurzerhand einfach beide. Das Spiel der großen Plattenfirmen wollte er eben nie mitspielen. Kunst stellt er immer vor Kommerz, und so blieb die große Karriere folgerichtig aus.
Neben seiner eigenen Band rückte im Laufe der Jahre mehr und mehr seine Produzententätigkeit in den Vordergrund. Er hat die Karrieren von Kyuss und Queens Of The Stone Age maßgeblich mitgestaltet und zudem auch Alben von den Foo Fighters, Stone Temple Pilots und The Cult produziert.
In den letzten Jahren wurde es jedoch leider recht still um einen der letzten Charakterköpfe der Szene. Auf die Frage nach dem Grund seiner Rückkehr hat er eine verblüffend einfache Antwort: „Ich habe endlich mal wieder den Drang verspürt, Musik zu machen.“
Er habe sich schon vor geraumer Zeit zurückgezogen und in die Beobachter-Perspektive begeben. In dieser passiven Position hat ihm der kreative Antrieb gefehlt, aber sie half ihm, seine Sinne zu schärfen.
„In den Jahren seit der verdammten Pandemie ist so unfassbar viel Scheiße auf der Welt passiert, dass ich dadurch inspiriert wurde, wieder künstlerisch tätig zu werden. Mich beschäftigen dabei weniger die unmittelbaren Ereignisse als die sekundären Auswirkungen auf unsere Psyche. Die Tragweite der Folgeprobleme können wir immer noch nicht abschätzen. Mein Schaffen war ja hoffentlich nie offensichtlich, und auch diesmal sollte man zwischen den Zeilen lesen. In dieser Hinsicht ist David Bowie ein großes Vorbild für mich, und sein Tod war ein riesiger Verlust, der mich auch persönlich sehr getroffen hat.“
Stilistisch rückt „The Archer“ bewusst vom rifflastigen Stoner Rock ab, auch wenn „Mr. Tap n´Go“ und „Bible Head“ die Verve früherer Alben besitzen.
An seine Stelle ist mal mehr, mal weniger psychedelisch angehauchter Blues getreten. Die aktuelle Rockszene langweilt ihn, sagt Chris schulterzuckend ohne Überheblichkeit.
„Dieser typische Riff-Rock, der heutzutage populär ist, ist ja nicht schlecht, aber damit bin ich durch – so was habe ich schon gemacht, und aktuell wüsste ich nichts, was ist dem noch hinzufügen könnte. Klar gibt immer noch gute Leute wie Brant Bjork, aber ich will mit diesem Album ein anderes emotionales Statement setzen.
Gerade in tristen Zeiten wie diesen kann die Welt einen Boogie gebrauchen, der für gute Laune sorgt. Blues hast mehr zu bieten als nur drei Akkorde – er ist das Leben! Ich habe viele unterschiedliche Nuancen gefunden und finde, dass alles wunderbar ineinanderfließt. Ich habe keine Ahnung, wie die Leute das Album aufnehmen werden, bin aber sehr glücklich damit, weil es von Grund auf ehrlich ist. In Gewisser Weise ist es Mein „Led Zeppelin III“, wenn du verstehst, was ich meine, denn es ist ebenfalls deutlich ruhiger und spiritueller.“
Ein Song wie das Titelstück könnte mit seiner geheimnisvollen Atmosphäre und seinen schrägen Vibes als Soundtrack eines David-Lynch-Films durchgehen. Chris ist sehr angetan von der Assoziation.
„Sein Tod war wie David Bowies ein großer Verlust für die Kunst. Er hat das Unaussprechliche und Geheimnisvolle auf faszinierend subtile Art in Szene gesetzt. In seinen Filmen geht es stets um die Zwischentöne und den Subtext. Nichts ist, wie es scheint – und genau danach strebe ich auf diesem Album.“
Auf die Frage nach dem Textkonzept zitiert Chris einerseits Zeilen aus dem dritten Akt von Shakespears „Hamlet“ und verweist andererseits auf das Neue Testament.
Die genauen Zusammenhänge bleiben kryptisch – offenbar soll jeder eine eigene Interpretation finden. Er ergänzt, dass die menschliche DNS sehr wichtig sei, weil die ganze Entwicklungsgeschichte der Menschheit von vielen Tausend Jahren darin gespeichert ist.
„Ich habe Sorge, dass wir durch die viele Zeit vor dem Computer oder dem Handy-Display desensibilisiert werden und unsere Urinstinkte verlieren: die Verbindung zur Natur, zu den Elementen und zur Spiritualität, dem dritten Auge.“
Ist diese Ansicht noch nachvollziehbar, driftet Chris danach in gewagte Verschwörungstheorien über Chemtrails und elektronische Nanopartikel zur Manipulation ab, bekommt aber gerade noch die Kurve, als er merkt, dass ich für solche Thesen nicht empfänglich bin. Also reden wir lieber über den Text von „It All Comes Back To You“, der auf dem spirituellen Konzept des Karmas beruht und passend dazu von orientalischen Einflüssen untermalt ist.
„Wer halbwegs bei Verstand ist, weiß, dass alles, was man aussendet, auch zurückkommt. Das wusste Einstein, und das ist auch schon lange davor in Sanskrit überliefert. Die Theorie ist also alles andere als neu, aber ich finde, man sollte immer wieder an sie erinnern, denn würde jeder den Karma-Gedanken beherzigen und positive statt negative Energie ausstrahlen, wäre die Welt ein ungleich besserer Ort.
Man muss kein Guru sein, sondern einfach nur nett zu seinen Mitmenschen.“
Bei der Single „Sugar“ erinnert Chris´ Stimme etwas an Neil Young – ein Vergleich, den er als großes Kompliment versteht: “Ich schätze ihn sehr, und die Ähnlichkeit ist durchaus beabsichtigt.”
Der Song ist noch aus einem anderen Grund besonders, denn er hat die Entstehungsgeschichte.
„Ich war aus irgendeinem verrückten Grund regelrecht von der Akkordfolge E-F-G besessen. Das Ganze begann schon 2006, als ich bei Proben und Soundchecks ständig mit diesen Akkorden herumspielte. Ich habe es aber einfach nicht geschafft, auf den Punkt zu kommen und ein schlüssiges Stück daraus zu komponieren. Das gelang mir erst im letzten Jahr. Manche Songs entstehen in einer halben Stunde, andere brauchen eben 18 Jahre… Zeit ist eh relativ. Letztendlich weiß ich jetzt noch nicht, wie gut oder schlecht das Album altern wird. Das zeigt sich nur im Rückblick. Manchmal merke ich erst Jahre später, wozu mich meine Intuition seinerzeit verleitet hat. So ist es auch mit der visuellen Seite von „The Archer“. Mir schwebte für dieses Album schon lange ein grobkörniges Schwarzweiß-Cover vor, aber ich kann gar nicht sagen, warum. Dann kam ein Freund von mir zufällig mit diesem Foto an: grobkörnig, schwarzweiß – Bingo! Die Eklipse darauf war nicht meine Idee, ist aber natürlich ein ausdrucksstarkes Motiv.“
Chris lebt mit drei Katzen, die in seinem Wüstendomizil Skorpione statt Mäuse fangen. Katzen kommen auch gerne mal in seinen Texten vor, genauso wie Hasen. Diesmal schafft es jedoch ein anderes Tier auf das Album, nämlich ein kleines Huhn in – nomen est omen – „Chicken Little“.
„Das bezieht sich auf die Fabel eines Anti-Nazi-Cartoons aus dem Zweiten Weltkrieg, von der es auch einen gleichnamigen Disney-Film gibt. Das kleine Huhn schlägt Alarm, weil es denkt, dass ihm der Himmel auf den Kopf fällt – und diese Metapher passt zur heutigen Zeit.“
Die Besetzung der Band zeichnet sich durch stetigen Wandel aus. Diesmal stand dem Mastermind mit Gitarrist Alain Johannes ein erfahrener Veteran zur Seite, der unter anderem bei Queens Of The Stone Age, Eagles Of Death Metal, Them Crooked Vultures, der Mark Lanegan Band sowie den sträflich unterschätzten Eleven gespielt hat. Angesichts dieser Vita verwundert es nicht, dass es und Chris sich schon seit Jahrzehnten kennen und häufig zusammengearbeitet haben.
„Er hat etliche wundervolle Gitarrenparts beigesteuert, wird aber leider nicht an der aktuellen Tour teilnehmen. Ich bin sehr traurig deswegen, aber er muss sich um gesundheitliche Probleme kümmern, und die gehen natürlich vor. Damit nicht genug: Auch sein Back-up, mit dem ich viel geprobt habe, fällt aus, weil er mit einer ersthaften Lungenentzündung im Krankenhaus liegt. Aber Aufgeben ist keine Option.“
Deswegen checkt Chris zum Zeitpunkt des Interviews noch weitere Kandidaten- schließlich drängt die Zeit, da MASTERS OF REALITY bei Erscheinen dieser Ausgabe schon längst unterwegs sind. Auch um seine eigene Gesundheit sei es nicht zum Besten gestellt. Vor allem sein Rücken mache ihm immer wieder zu schaffen, klagt er, aber die euphorischen Reaktionen auf der letztjährigen Kurztour hätten ihm mehr geholfen als tausend Ärzte. Deswegen will er ungeachtet aller Probleme unbedingt erneut hier spielen – alleine schon, um wieder in sein kölsches Stammbrauhaus einkehren zu können. Der Freund deftiger Küche liebt es nämlich, bei jedem Besuch dort Sauerbraten mit Klößen zu verspeisen und sich am regionalen Bier zu laben.
„Bei jedem Köln-Besuch muss ich dort vorbeischauen und vorher den Dom erklimmen, denn die Architektur dieses riesigen Kunstwerks begeistert mich immer wieder aufs Neue.“
Dann mal guten Appetit!
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