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von Wolf Mühlmann, 2018
Der Kauz aus der Wüste
Er ist ein großer, schwerer Typ mit Glatze und sanften Augen. Ein Kind im Körper eines Mannes, ein ruhiger Gesell, ein Genießer von vielen Kalorien und noch mehr Hanf, ein fast Sechzigjähriger, der sowohl geballte Lebenserfahrung als auch simpelste Naivität in sich vereint: Chris Goss hat mit seiner Hauptband MASTERS OF REALITY einzigartige, mit keiner anderen Rockgruppe vergleichbare Alben veröffentlicht und genießt den Ruf sowohl eines Vorreiters als auch eines Traditionsbewahrers.
Und nicht zuletzt wegen seiner Produzententätigkeit gilt der in Südkalifornien lebende Familienmensch als Koryphäe, was diverse Veröffentlichungen von Kyuss, Queens Of The Stone Age, The Cult, Foo Fighters und Black Rebel Motor Cycle Club veranschaulichen.
Chris, es war gar nicht so einfach, dich nach all den Jahren aufzuspüren. Du bist nicht bei Facebook, du hast keine aktive Homepage, deine alte Email-Adresse funktioniert nicht. Selbst die Leute von Mascot Records, deiner bisherigen Plattenfirma, konnten mir nicht helfen.
»Letzteres kann ich mir lebhaft vorstellen. Die können ja nicht einmal mir helfen (lacht).«
(in diesem Fall habe ich den Kontakt zwischen Wolf und Chris hergestellt ;-). Anmerkung Thomas Hornbruch, Mastersofreality.de. Das ist und war übrigens auch meines Wissen, dass einzige Interview, welches Chris Goss im Jahr 2018 gegeben hat)
Allerdings bist du auf Twitter aktiv.
»Ja, dort lasse ich hin und wieder mal etwas von mir hören.«
Ist Twitter deine bevorzugte Kommunikationsbasis?
»Nein, ich kommuniziere nach wie vor am liebsten von Angesicht zu Angesicht. Oder telefonisch. Aber Twitter ist perfekt, um während eines Werbeblocks im TV mal eben schnell einen guten Songtipp in die Welt hinauszusenden, in der Hoffnung, dass sich möglichst viele Menschen dieses Lied anhören. Dafür ist Twitter perfekt. Alles andere tangiert mich weniger. Übrigens, was mir gerade einfällt: Ich vermisse das Restaurant “Früh” in Köln und seinen Braten mit Klößen Und das Kölsch. Jedes Mal, wenn ich in Köln bin, gehe ich ins “Früh”, obwohl Freunde mir gesagt haben, dass dieses Gasthaus ein typisches Touristending sei…«
Deine Freunde haben Recht.
»Aber ich liebe es und habe es schon einigen anderen Musikern empfohlen. Allerdings meinte einer danach zu mir, dass die Soße von seinem Sauerbraten eklig geschmeckt hatte, weil sie verbrannt war. Na ja, vielleicht hatte der Koch einen schlechten Tag.«
Musiker oder Produzent: Was ist für dich wichtiger?
»Ich bin zuerst Musiker, danach Produzent. Aber das eine bedingt bei mir das andere. Ich fühle und handle ganzheitlich. Es gibt nichts Schöneres als eine Melodie, die mir gerade in den Sinn gekommen ist, zu summen und dabei Gitarre zu spielen.«
Wie sieht ein normaler Tag im Leben von Chris Goss aus?
»Ich stehe mittags oder nachmittags auf und gehe um fünf oder sechs Uhr morgens ins Bett. Meine Arbeit verrichte ich also überwiegend abends und nachts. Die meisten Leute, selbst die meisten Musiker, stehen früher auf als ich. Wenn ich nachts arbeite, sei es im Studio oder beim Komponieren eines Songs, habe ich meine Ruhe. Nichts und niemand stört mich.«
Lebst du noch in der südkalifornischen Wüste?
»Ja, seit mittlerweile 25 Jahren.«
Trotz Schlangen und Skorpione?
»Wir sind von ihnen umzingelt. Aber ich habe drei Hauskatzen, die uns vor den Skorpionen schützen.«
Wie das?
»Da, wo wir leben, haben frei lebende Katzen nur geringe Überlebenschancen. Sie würden gebissen oder gar gefressen werden. Aber im Wohnbereich sind Katzen unverzichtbar, denn hin und wieder kommt es vor, dass Skorpione durch Türritzen oder offene Fenster ins Haus gelangen. Katzen spüren diese Viecher auf und machen sie platt, bevor sie uns möglicherweise stechen können. Bei sind die Katzen als Wachhunde tätig. Jeder, der bei uns im Haus lebt, geht also einem geregelten Job nach (lacht).«
In den Texten von MASTERS OF REALITY werden in schöner Regelmäßigkeit Katzen und Hasen erwähnt, zum Beispiel in den Songs ‘Third Man On The Moon’ und ‘Rabbit One’. Deine Affinität zu Katzen wäre ja nun geklärt, aber wieso faszinieren dich Hasen?
»Ich glaube, das hat etwas mit meiner kindlichen Affinität für Magie zu tun. Das Bild des aus dem Zylinder hervorgezauberten Kaninchens… Hasen finden regelmäßig in Zaubergeschichten der “Alice im Wunderland”-Machart Erwähnung. Sie sind sehr mysteriöse Geschöpfe, ruhig und stets aufmerksam. Ihre großen Ohren hören alles (lacht)! Außerdem leben in unserer Gegend unzählige Hasen, und zwar Wüstenhasen und Eselhasen. Letztere sind so groß wie kleine Hunde. Meine Frau füttert sie immer. Mit der Zeit werden die Viecher zutraulich und fressen dir aus der Hand.«
Gibt es etwas, was du von den Wüstentieren gelernt hast?
»Geduld. Schlangen, Habichte und andere Tiere müssen sich in Ruhe und Geduld üben, um irgendwann ihre Beute zu erwischen. Alles in allem ist die Wüste ein sehr ungemütlicher Ort. Alles ist extrem: die Temperatur im Sommer, die Vegetation, die vor allem aus Kakteen und Wasser sparenden Büschen mit harten, scharfen Blättern besteht. Flora und Fauna sind darauf ausgerichtet, sich zu schützen und zu überleben. Und ich bin darauf ausgerichtet, mich sowohl zu schützen als auch nicht zu stören.«
Du sammelst alles zum Thema Hasen: Amulette, Bilder, Souvenirs, Bücher…
»Das ganze Haus steht voll mit dem Zeug, zum Leidwesen meiner Frau. Ich besitze drei Tier-Amulette: einen Hasen, einen Esel und einen Elefanten. Je nach Stimmungslage hänge ich mir das jeweilige Amulett um den Hals.«
Ich habe irgendwo gelesen, dass du dich für das Instrumental ‘Theme For The Scientist Of The Invisible’, das quasi als Einleitung des Songs ‘Domino’ fungiert, sowohl von Hasen als auch vom Philosophen und Waldorf-Pädagogen Rudolf Steiner hast inspirieren lassen.
»Ich war in den Achtzigern ziemlich esoterisch drauf und fuhr auf entsprechende Literatur ziemlich ab. Irgendwann bin ich auf Steiner gestoßen, dessen Theorien mich faszinierten. Also las ich einige seiner Bücher und wurde regelrecht verrückt nach seinen mythologischen Ausführungen. Irgendwann stieß ich auf Goethe und “Faust”, da sich Steiner intensiv mit dem Werk von Goethe befasst hatte. Danach besuchte ich eine Steiner-Walddorfschule in New York und unterhielt mich mit Leuten, die in der Schule als Lehrer tätig waren. Wie gesagt, ich war besessen. Unabhängig davon, wie man heute über ihn urteilt: Damals war Steiner für mich der letzte echte Alchemist seiner Zeit und zudem ein Sprachgenie. Und jetzt kommt’s: Etwa zur Jahrhundertwende, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, entwickelte Steiner eine chemische Formel, eine Substanz, mit der man Hasen vertreiben kann. Damals litt Deutschland unter einer riesigen Hasenplage, etliche deutsche Bauern haben also diese chemische Substanz auf ihren Feldern verstreut – und es hat funktioniert. Die Hasen blieben weg. Als später die Nazis an die Macht kamen und sowohl Hitler als auch Himmler nach Wissenschaftlern suchten, die bereit für schlimmste Verbrechen waren, geriet Rudolf Steiner in deren Fokus. Hitler dachte, dass Steiner auch in der Lage sei, eine chemische Formel zu entwickeln, mit der man Juden aus Europa vertreiben kann. It’s a true story! Steiner lehnte aber ab, denn er war im Grunde seines Herzens Humanist.«
Ist ‘Rabbit One’ vom zweiten MOR-Album “Sunrise On The Sufferbus” ein weiterer Teil dieser Geschichte?
»Nein, das ist einfach nur ein Bluessong.«
Kürzlich haben wir in unserem Magazin die neunziger Jahre ziemlich umfangreich analysiert. War es ein gutes Jahrzehnt für die Rockmusik?
»Alles in allem waren die Neunziger deutlich schlechter als die Achtziger. Lass es mich so sagen: Wo auch immer etwas Gutes passiert, wird es von Schlechtem begleitet. So ist der Lauf der Welt. Es gibt kein Licht ohne Dunkelheit. Die Achtziger waren geprägt von vielen fantastischen Bands, großen Ideen und von einem zunächst natürlichen Wachstum von Szenen und Combos. Aber nicht alles war gut. Nimm nur die Hairbands: Ich mag David Lee Roth sehr. Er ist lustig und lächelt immer. Ein beeindruckender Typ und stets fröhlich auf der Bühne. Aber braucht man tatsächlich eine Szene mit Typen, die immer schön sind, immer lächeln und deren Musik ebenfalls immer schön ist und immer lächelt? Leider passierte genau das. Ich hatte mit dieser Art von Musik eine gute Zeit erlebt, aber irgendwann wurde sie zur Schablone und produzierte ein Herr aus grinsenden Fönfrisuren, die gesichtslose Musik zu verantworten hatten. Die Relevanz von Bands wie The Cure oder Public Image Limited ist für mich rückblickend größer als die der Hair- und Stadionrockbands. Englische und deutsche Musik, wie zum Beispiel DAF und ‘Der Mussolini’, hatten eine große Wirkung auf mich. Eine olle Fünfziger-Jahre-Kamelle wie ‘Splish, splash, I was takin' a bath’ hat mehr Inhalt als alle Glambands der Spätachtziger zusammen.«
Und die Neunziger?
»Zunächst mal kamen originelle und hochtalentierte Bands, wie zum Beispiel Alice In Chains und Nirvana. Gute düstere Popmusik, alles wunderbar. Aber leider war jenes Jahrzehnt von der Entstehung der Dotcom-Blase sowie der social medias und dem damit einsetzenden maximalen Ausschlachten von allem, was vermarktbar ist, gekennzeichnet. Jede Seattle- oder Punkrock- oder Desert-Rock-Kopie wurde als der heißeste Scheiß aufgeblasen, obwohl es sich ebenfalls nur um Schablonen der Originale handelte. “Beavis and Butt-Head” und das startende Internetmarketing haben Musik endgültig zum Business gemacht, zum Futter für Konsumenten. “Beavis and Butt-Head” saßen vor der Glotze, schauten sich Musikvideos an, furzten und machten dumpfe Witze. Das war eine neue Qualität an Dummheit und Würdelosigkeit. Die mediale und öffentliche Gier, die nach dem Selbstmord von Kurt Cobain ausgebrochen ist, alles an die Öffentlichkeit gezerrt und Musik zu einem bloßen Gegenstand degradiert hat, war ekelerregend.«
Und wie findest du die gegenwärtige Rockmusik?
»Das Gute an der Entwicklung, die in den Neunzigern Fahrt aufgenommen hatte, ist: Wenn du kreativ bist und tolle Ideen hast, bieten sich dir viel mehr Möglichkeiten. Eben weil es die verrücktesten Formen von Technik und Medien gibt. Du kannst direkt mit den Menschen kommunizieren und ihnen deine Musik vorstellen, ohne auf Labels und auf Schund wie “Beavis and Butt-Head” angewiesen zu sein. Die unbegrenzten Möglichkeiten haben aber auch dazu geführt, dass der Wettbewerb, dem die riesige Masse an Bands ausgesetzt ist, härter denn je ist. Rockbands konkurrieren miteinander. Im Gegensatz zur HipHop-Szene: Dort hilft man sich mehr als man sich bekämpft. Der Community-Gedanke ist im HipHop nach wie vor ein tragendes Element.«
Was sind die markantesten Unterschiede zwischen einer Albumproduktion in den Achtzigern, in denen auch euer Debütalbum “Masters Of Reality” entstand, und in der Gegenwart?
»Die Liebe zur Ganzheitlichkeit. Meine Devise ist, dass auf einem Album sowohl Musik als auch Sound den gleichen Stellenwert haben müssen. Im Idealfall drücken der Sound und die daraus resultierende Atmosphäre die Persönlichkeit des Künstlers aus. Nimm Led Zeppelin! Und dann vergleiche sie mit den Alben der Jetztzeit. Neun von zehn Platten klingen, wie soll ich es sagen… traurig. Einfach nur traurig, da tot. Schau dir mal an, wie Musik heute gehört wird. Plastik-Kopfhörer, iPhones, kleine Computerlautsprecher… Früher haben die Menschen Musik entweder im Auto oder Zuhause über ihre Anlage mit großen Lautsprechern aus Holz angehört. So ziemlich die einzige Musik, die derzeit echte Resonanzen erzeugt, ist HipHop, weil es low-end klingt. Ansonsten regiert Plastik, und zwar als Ausdruck von Professionalisierung der Gesichtslosigkeit. Das macht mich wahnsinnig! Mittlerweile ist sogar die amerikanische Countrymusic, einst Garant für analoge, ehrliche Sounds, durch glattgezogene Plastiksounds verseucht.«
“Masters Of Reality” hat nicht zuletzt deshalb so souverän den test of time gemeistert, weil die Scheibe nach einer echten Liveband klingt, die zusammen in einem Raum musiziert.
»So war es auch, und genau so haben MASTERS OF REALITY alle Platten aufgenommen. Jedes Album, auf dem ich gespielt oder das ich produziert habe, ist mit einem Live-Drummer entstanden. Ein Drummer, ein echter Bassist und manchmal ein Keyboarder aus Fleisch und Blut haben im Studio für das Skelett eines Songs zu sorgen. Einen Click-Track zur Timing-Unterstützung kann ich akzeptieren, aber alles Künstliche vom Computer, das den Menschen ersetzt, hat in einem Studio, in dem ich zugegen bin, nichts zu suchen. Das Tolle an Menschen ist: Sie machen Fehler. Und wenn im Studio bei den Aufnahmen Fehler passieren, darf es nicht darum gehen, sie abzustellen, sondern aus ihnen etwas Kreatives zu machen. Dies macht ein Album einzigartig, weil Fehler dem jeweiligen Song einen bestimmten Charakter verleihen. Da fällt mir eine schöne Geschichte ein: Als wir “Blues For The Red Sun” von Kyuss aufnahmen, das ist nun auch schon wieder 25 Jahre her, schlug der Drummer in einem Song zu früh auf die Tom und meinte, dass er diesen Fehler unbedingt bei einem weiteren Take beheben müsse. Ich zu ihm: “Nein, lass das so! Stell irgendwas Cooles damit an, mach einen Fill um diesen Beat, meinetwegen einen Cymbal-Crash.” Besagte Stelle wurde zu einem der coolsten Momente auf dem Album. Es sind Fehler, Unfälle und Unperfektion, die Platten einmalig machen. The Beatles waren große Verfechter dieser Magie, die aus Fehlern erwächst, David Bowie ebenfalls.«
In ‘Doraldina’s Prophecies’, einem deiner wunderbarsten Songs überhaupt, singst du eine seltsame Geschichte in der Ich-Perspektive. Haben wir es tatsächlich mit einem autobiografischen Stück zu tun?
»Mit Mitte Zwanzig musste ich mal wegen eines operativen Eingriffs eine längere Zeit im Krankenhaus verbringen. Und an jedem Morgen kam eine Krankenschwester ins Zimmer, um mir meine Schmerzmedikamente zu verabreichen. Die Pillen hatten eine dermaßen betäubende Wirkung, dass der Übergang zwischen Realität und Halluzination fließend war. Ob die Krankenschwester tatsächlich die wunderschöne Doraldina war…«
…und ob du als kleiner Junge bei dem Versuch, einen Fluss zu überqueren, aus Versehen auf einen Alligator gesprungen bist, weil du dachtest, es sei ein Pferd…
»…weiß niemand so genau. Ich bin ein Geschichtenerzähler und hantiere mit Doppeldeutigkeiten, die ab dem Moment ihrer Aufklärung unnütz werden. Deshalb kläre ich nichts auf.«
Ursprünglich wurde “Masters Of Reality”, das auch unter dem inoffiziellen Titel “The Blue Garden” bekannt ist, im Jahr 1988 veröffentlicht, aber 1990 erschien ein Re-Release, auf dem ‘Doraldina’s Prophecies’ als Bonustrack erstmals enthalten war. Komisch, dass es diese Songperle nicht von Anfang an aufs Album geschafft hatte. Jedenfalls führte die erneute Veröffentlichung eures Debütalbums dazu, dass viele Menschen euch den Neunzigern zuordnen.
»Rick Rubin, der uns damals für sein soeben gegründetes Label Def American unter Vertrag genommen hatte, meinte, dass wir uns wegen der zu langen Spielzeit des Albums zwischen ‘John Brown’ und ‘Doraldina’s Prophecies’ entscheiden müssten. Ich fand das zwar ziemlich albern, aber als junge Band, die froh über ihren Plattenvertrag war, wollten wir auch nicht groß aufmucken. Also blieb ‘John Brown’ auf dem Album. Als zwei Jahre danach Delicious Vinyl die Scheibe erneut veröffentlichen wollten, haben wir dafür gesorgt, dass diesmal das vollständige Album auf den Markt kommt. Interessanterweise hat ‘Doraldina’s Prophecies’ eine ganze Menge Airplay in den College Radios bekommen, wurde zu einem unserer absoluten Signature-Songs und erhöhte unseren Bekanntheitsgrad immens. Vermutlich aus diesem Grund rechnen uns die Menschen den Neunzigern zu, obwohl wir die Basis bereits in den Achtzigern gelegt hatten.«
Übrigens: Es wird höchste Zeit für ein neues MASTER’S-Album!
»Absolut. Ich habe vor einiger Zeit mit Mascot Records, die meine letzten Scheiben veröffentlicht hatten, über die Möglichkeit einer neuen Platte gesprochen. Aber es scheint so, dass sie verstärkt auf junge Bands setzen wollen. Keine Ahnung, ob sie jemals wieder meine Musik veröffentlichen werden. Ich sage ganz offen: Ich bin nicht derjenige, der entscheidet, ob und wann es ein neues Album von MASTER’S OF REALITY geben wird. Wenn ein Label mich anruft und sagt, dass es meine Musik veröffentlichen will, können wir sofort loslegen. Obwohl ich in den vergangenen Jahren eher sehr ruhig und relaxt gelebt habe, hat sich mittlerweile ein Fundus von rund 200 neuen Songs angehäuft, aus denen ich die besten Stücke für eine neue Platte heraussuchen kann. Es ist übrigens durchaus möglich, dass ich noch vor der nächsten MASTER’S-Platte eine neue Scheibe von Goon Moon (eine Rockband von Chris und Ex-Marilyn Manson-Bassist Twiggy Ramirez) in Angriff nehmen werde.«
Du wurdest in eine katholische Familie hineingeboren und bist entsprechend erzogen worden. Würdest du dich heute als religiös bezeichnen?
»Ich weiß nicht, ob “religiös” das zutreffende Wort dafür ist. Heute sagt jeder “spirituell”, was mittlerweile zur Standardantwort geworden ist. Ich bin für meine katholische Herkunft dankbar. Die damit verbundenen Lehren über menschliche Werte, über den Wert des Zusammenlebens in einer Familie würde ich als Schatz bezeichnen. Auch Tradition bedeutet mir sehr viel. Nicht zu vergessen die Hingabe für etwas, das man verehrt. Auch wenn ich kein überzeugter Katholik bin, fühle ich mich dem Katholizismus verbunden. Meine Kinder haben eine katholische Schule besucht, damit ihnen eine ähnliche Bildung wie mir zuteil werden konnte. Es gibt an katholischen Schulen diverse Rituale, die Außenstehenden sicherlich seltsam vorkommen. Jede Jahreszeit hat ihr eigenes Ritual. Im Frühling zum Beispiel wird in den Klassenräumen ein Altar aus wild wachsenden Blumen errichtet, um die Sinne der Kids für die Wunder der Natur zu schärfen. Du kommst morgens in dein Klassenzimmer und wirst umhüllt vom Duft zahlloser Blumen. Ich finde das fantastisch und denke, dass es gut für meine Kids war. Auch wenn es viel Rückschrittliches, sexuelle Frustration und Unaufgeklärtheit gibt, finde ich, dass der Katholizismus alles in allem eine gute Sache ist. Ich bin nicht mehr der Jüngste und habe mich in meinem Leben aufmerksam umgeschaut. All die Alternativen zu jener Lebensweise, die ich praktiziere, finde ich nicht unbedingt besser oder sinnvoller. Was ist an meinem Leben denn so absurd, wenn andere Menschen entweder gar keinen spirituellen Kompass haben oder aus religiösen Gründen Bomben zünden? Das Spirituelle und Religiöse findet sich auch in meiner Musik wieder.«
Zum Beispiel im Titel deines 2004er Albums “Give Us Barabbas”. Laut evangelischen Überlieferungen war Barabbas ein Mann, genauer gesagt ein krimineller Mann, der sich zur Zeit der Gefangennahme und Passion von Jesus in römischer Haft befand. Der Legende nach soll der Römer Pontius Pilatus dem auf einem großen Platz versammelten Volk die Alternative angeboten haben, entweder Jesus oder Barabbas freizulassen. Das Volk entschied sich für Barabbas.
»Diese Story ist Sinnbild für die gesamte Menschheitsgeschichte, und zwar für die Mentalität der großen Masse. Das Treffen einer schlechten, einer falschen Wahl, weil man einer gewissen aufgeheizten Stimmung nachgibt. Egal, was in der Welt passiert ist und welche Lehren man aus der Geschichte gezogen haben müsste: Wenn man die Masse aufstachelt und lenkt, wird sie sich immer fürs Böse entscheiden und unnützes Blutvergießen wählen. Kriminelle werden bejubelt, Politiker werden bejubelt, Musiker werden bejubelt – das ist alles Teil derselben Story. Und somit war es perfekt für einen Albumtitel.«
Mittlerweile existieren allerdings noch andere Interpretationen besagter Überlieferungen. Einige Wissenschaftler vertreten die Ansicht, dass Jesus und Barabbas ein und dieselbe Person waren. Jesus nannte Gott Abba. Abba ist das aramäische Wort für Vater. Und bar-Abba bedeutet: des Vaters Sohn, im Falle von Jesus also Sohn Gottes. “Give Us Barabbas” könnte also auch bedeuten: Gib uns Gottes Sohn.
»Das ist furchterregend und spannend. Ich werde mir dazu unbedingt Lesestoff besorgen müssen. Ich finde, dass allein solche Geschichten und die unterschiedlichsten Versionen ihrer Überlieferungen es wert sind, sich mit Religionen und Historie auseinanderzusetzen. Was Mythos und was Wahrheit ist, bleibt ohnehin nebensächlich, denn aus jeder Wahrheit entsteht irgendwann ein Mythos.«
Wenn man bei der Version des kriminellen Barabbas bleibt: Würdest du sagen, dass jemand wie Donald Trump eine moderne Variation dieser Figur ist?
»Nicht wirklich. Ich würde niemals einen Politiker auch nur ansatzweise in spirituelle Dimensionen hieven. Egal, wen die Menschen zu ihrem Anführer machen, es spielt sowieso keine große Rolle, weil es sich immer nur um Marionettentheater handelt. Politik ist böse, egal wer am Hebel sitzt. Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich niemandem mehr glaube. Wir erleben eine schlechte Zeit für die Wahrheit und ich mache bei diesem weltpolitischen Theaterspiel nicht mit. Lieber sitze ich Zuhause und spiele Gitarre.«
Magst du “Villains”, das aktuelle Album deiner einstigen Zöglinge Queens Of The Stone Age?
»Eher nicht. Mark Ronson ist ein hervorragender Produzent, aber leider der falsche für die Queens. Das ist das, was mir meine Ohren sagen. Die Queens bedeuten mir sehr viel, wir haben ein sehr enges persönliches Verhältnis zueinander und ich freue mich völlig unabhängig von meiner Meinung zu ihrem neuen Album über ihren sagenhaften Erfolg.«
Kyuss oder die Queens: Wo hast du dein Herz verloren?
Bei keiner dieser beiden Bands. Mein Herz schlägt für David Bowie und Jimmy Page.«
Du hast vor einigen Jahren gemeinsam mit Dave Grohl im Rahmen seiner Sound-City-Performance live einige MASTERS OF REALITY-Songs gespielt. Angenommen er würde bei dir fest einsteigen: Wäre er für dich als Gitarrist oder als Drummer brauchbarer?
»Im MASTERS-Kontext unbedingt als Gitarrist. Er ist ein guter und kraftvoller Drummer, aber für meinen Geschmack spielt er viel zu hart. Ich bevorzuge Schlagzeuger, die gefühlvoller agieren, denn nur dann haben die Drums, speziell die Felle, die Möglichkeit, entsprechende Resonanz- und Widerhall-Geräusche abzugeben, die auf wirklich guten Aufnahmen das klangliche Salz in der Suppe ausmachen. Wenn man wild drauflos prügelt und leise Töne damit verhindert, wird man niemals einen vernünftigen Schlagzeugsound hinbekommen. Als Gitarrist wäre Dave hingegen ideal für mich. Und menschlich sowieso.
Drummer sind ein seltsamer Menschenschlag. Man sagt ja immer, dass dem Sänger die Rolle des Verrücktesten zukäme, aber in Wahrheit sind die Schlagzeuger die Beklopptesten. Im Idealfall haben Schlagzeuger analytische Fähigkeiten, denn sie sitzen alleine ganz hinten und beobachten, was der Rest der Band vor ihnen so treibt. Ringo Starr von The Beatles füllte diese Rolle perfekt aus. Und wenn wir auf MASTERS OF REALIY zurückkommen: Ginger Baker war der ideale Drummer für mich. Das Zusammenspiel mit ihm hat mich immer wieder auf ein Neues ins Paradies katapultiert. Dieser wunderbare Zustand, der sich so fühlt, als verschmelze man miteinander, und alles funktioniert, ohne dass man großartig nachdenken muss... Ich habe schon einigen Musikern in meinem Studio ins Gewissen reden müssen: “Leute, seid verständnisvoll und hört euch gegenseitig zu!” Eine Ansammlung von Musikern macht noch längst keine Band.«
Wie würdest du dein Verhältnis zu Ginger Baker beschreiben?
»Dazu fällt mir eine kleine Geschichte ein. Wir waren in London, im Hotel. Er rief mich von seinem Zimmer aus an und meinte: “Chris, schalte den Fernseher ein und geh auf BBC!” Dort lief eine Sendung über den “Cotton Club”, einen berühmten New Yorker Nachtclub der zwanziger und dreißiger Jahre. Und die dort auftretenden Bands, die da im TV gezeigt wurden, hatten allesamt eines gemeinsam: Sie lächelten selig, während sie ihre Songs spielten… Ginger und ich haben uns auch aneinander erfreut, wenn wir zusammen Musik machten. Gleiches gilt für unseren damaligen Bassisten Googe. Wir waren ein verdammt großartiges Trio! Ich bedaure es sehr, dass wir in dieser Besetzung nach “Sunrise On The Sufferbus” kein weiteres Album gemacht haben.«
Scott Weiland oder Ian Astbury: Mit wem war die Zusammenarbeit schwieriger?
Mit Weiland, wegen seiner Drogenabhängigkeit. Er konnte sich an nichts erfreuen, weder an seinem Leben noch an seiner Musik. Und Partys fand er auch furchtbar. Scott war ein verzweifelter und sehr trauriger Mensch, ein Typ, der sich in seiner Haut unwohl fühlte und stets weg wollte. Und wenn er an einen anderen Ort abhaute, wollte er von dort ebenfalls auch nichts wie weg. Er war jung, erfolgreich, von den Menschen respektiert und geliebt, aber er war immer unglücklich. Sein Bruder Michael tickte übrigens genauso, und auch er starb wegen seines Drogenkonsums. Ich habe mit beiden Brüdern zur selben Zeit gearbeitet, und wir alle haben untereinander gelitten.
Ian Astbury hingegen ist ein liebevoller, cooler Typ, der seinem Job sehr professionell und hingabevoll nachgeht.«
Was denkst du über Deutschland und die Deutschen?
»Ich liebe euren Sinn für Kunst und für herzhaftes Essen. Es ist ja kein Geheimnis, dass ich ein Freund der traditionellen Küche bin. Klöße, Schweinshaxe, Sauerbraten… Außerdem funktioniert bei euch der Schienenverkehr besser als in den Staaten. Eure Hingabe, die Dinge korrekt und pünktlich anzugehen, erfreut und erschreckt mich zugleich (lacht). Aber die Gewalt auf euren Straßen macht mich traurig. Was in Köln passiert ist... Ausgerechnet Köln, meine absolute Lieblingsstadt seit über zwanzig Jahren! Ich habe keine Ahnung, warum das passiert ist, wer dafür verantwortlich ist, warum es geschehen ist, aber ich finde es schlimm. Ich möchte auf niemandem mit dem Finger zeigen. Es ist einfach nur hässlich und es bricht mir das Herz.«
Und wenn ich dir nun sage, dass diese hässlichen Bilder mittlerweile zwei Jahre alt sind, eine einzige Nacht widerspiegeln und derartige Vorkommnisse in diesem Ausmaß sich seitdem nicht mehr wiederholt haben – was diverse amerikanische Medien offenbar vergessen haben zu erwähnen?
»Das wusste ich nicht. Das ist wunderbar und darüber freue ich mich sehr. In unseren Medien heißt es immer, dass es in Deutschland sehr gewalttätig geworden sei. Wie schon gesagt, ich hege warme Gefühle zu Deutschland.«
Obwohl wir keine Wüste haben…
»Das ist ein Argument. (lacht) Denn Südkalifornien hat den besten Winter, den es überhaupt gibt. Nachts ist es kalt genug, um ein Kaminfeuer zu rechtfertigen, und tagsüber herrscht Sweatshirt-Wetter. Besser geht’s nicht. Ich habe mir manchmal überlegt, wie es wäre, nach Deutschland überzusiedeln und an der Schule oder an einer Uni Musik zu lehren. Populäre Musik, angefangen im Jahr 1955 bis in die Gegenwart. Ich würde im Klassenzimmer zweitausend Alben deponieren und jedes Mal ein anderes aus der Sammlung fischen, den Schülern vorspielen und danach alles Wichtige darüber erzählen. Was hat die Band gewollt, was hat sie gespielt, warum sieht das Cover so aus wie es aussieht, wo befanden sich die Mikrofone während der Aufnahmen… Das sind die Dinge, über die ich Bescheid weiß. Und über gutes Essen, natürlich. Bei Letzterem rangiert übrigens die Schweiz auf Platz zwei hinter Deutschland.«
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»Im Wohnbereich sind Katzen unverzichtbar, denn hin und wieder kommt es vor, dass Skorpione durch Türritzen oder offene Fenster ins Haus gelangen. Katzen spüren diese Viecher auf und machen sie platt, bevor sie uns möglicherweise stechen können.«
»Eine olle Fünfziger-Jahre-Kamelle wie ‘Splish, splash, I was takin' a bath’ hat mehr Inhalt als alle Glambands der Spätachtziger zusammen.«
»Wenn man die Masse aufstachelt und lenkt, wird sie sich immer fürs Böse entscheiden und unnützes Blutvergießen wählen.«
»Eine Ansammlung von Musikern macht noch längst keine Band.«
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