© tip Berlin 2009; Autor: Ulrike Rechel; Fotos: Nigel Copp Ein spezieller Dank geht an Hagen Liebing aus der tip Musikredaktion
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“Wir haben es verdient, in den Arsch getreten zu werden”
1988 debütierte Chris Goss mit seiner Band auf dem Label von Rick Rubin. Inzwischen wird er selbst als Heavy-Rock-Produzent (Kyuss, QOTSA) in einem Atemzug mit seinem berühmten Lehrmeister genannt.
tip Mr. Goss, wie war Ihr Sommer in der kalifornischen Wüste?
Chris Goss Extrem heiß. Eigentlich kaum auszuhalten. Im Sommer hast du schon mal 45, 50 Grad. Meine Frau hat enorm zu tun, alle unsere Tiere zu versorgen in dieser Hitze. Ich bin kein Fan davon, glauben Sie mir. Ich lebe seit 15 Jahren in der Wüste. Aber auf den Sommer dort kann ich gut verzichten.
tip Sie leben direkt am Joshua Tree National Park. Andere Menschen buchen teure Urlaubsreisen dort hin.
Goss Sie müssen sich vorstellen: Im Sommer erwacht die Wüste zum Leben. Die Hitze bringt alles Mögliche zum Vorschein, aus dem Erdboden – alles, was kriecht. Klapperschlangen zum Beispiel. Es ist wie ein Dschungel zur Sommerzeit. Wenn du dir die Gegend in Joshua Tree anschaust, sieht erst mal alles völlig reglos aus. Aber sobald die Nacht kommt, geht das Gewimmel los, dann kriecht und fliegt es. Morgens kommt es schon mal vor, dass du aus dem Bett steigst und mit dem Fuß auf irgendwas Weiches trittst.
tip Du lieber Himmel.
Goss Wer steht morgens schon gern als Erstes auf einer Klapperschlange, wenn man noch halb verpennt ist? Ich hasse es.
tip Statt mit der Wüste befassen Sie sich auf Ihrem neuen Album mit dem Ozean. Eine Flucht vor dem Sandmeer?
Goss Das passt schon zusammen. Die Wüste ist schließlich wie ein Ozean ohne Wasser. Man kommt sich dort, wo ich lebe, vor wie im Irak: trockene, braune Bergketten über Hunderte von Meilen. Das ist ungefähr wie der Boden des Ozeans, aus dem jemand den Stöpsel gezogen hat. Der Ozean hat auch etwas Furchteinflößendes.
tip Entsprechend abgründig klingen Ihre neuen Songs. Der Schluss etwa ist eine lange instrumentale Space-Rock-Jam.
Goss Stimmt. Improvisation ist seit jeher der Schlüssel für meine Musik. Aber ich habe das noch nie so konsequent ausgelebt auf einem Album. Bei dieser speziellen Jamsession waren wir alle sehr aus dem Häuschen. Als wir fertig waren, haben wir uns angesehen und gedacht: Das war ziemlich gut. So ein Stück Musik habe ich schon immer machen wollen. Ein Stück, das so klingt, als ob da ein paar Leute wirklich spielen können.
tip Jetzt stapeln Sie aber tief.
Goss Wissen Sie, ich habe mir so oft Bands angehört wie Weather Report – zehn Minuten, zwölf Minuten lange Stücke – und mich gefragt, wie sie an diesen Punkt oder jenen hinkommen. Ob sie das vorher so geplant hatten oder nicht. Ich glaube jedenfalls, dass bei unserem Schluss-Track Musik rauskommt, die nicht langweilig ist, nicht selbstgefällig. Mir würde er vermutlich sogar gefallen, selbst wenn ich bloß Zuhörer wäre …
tip Keine Selbstverständlichkeit?
Goss Aber nein! Ich habe mal mit Kim Gordon von Sonic Youth darüber diskutiert. Wissen Sie, bei Sonic Youth geht es mir manchmal so, dass da oft was Prätentiöses mitschwingt, das mich stört. Ich denke dann: Less talkin’, more rockin’! Kim hat mir mal erzählt, dass sie mit ihrer Tochter über Jazz gesprochen hat. Und die sagte zu ihr: "Mommy, Free Jazz macht niemandem Spaß außer den Spielern." Da hat sie völlig recht.
tip Neben dem Impro-Stück am Ende haben Sie auch einige radiotaugliche Ohrwürmer aufgenommen, "Up In It" zum Beispiel.
Goss Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich liebe Popmusik. Abba zum Beispiel.
tip Sie sehen nicht gerade aus wie ein Abba-Fan.
Goss Bei Abba findest du immer wieder geniale Momente. "Dancing Queen" – ist eine geniale Harmonie. (singt laut:) "You can dance, you can jive, having the time of your life!" – Wie die Melodien verlaufen, sich die Harmonien entwickeln, wie sich das schichtet. Was sich unter all diesen Melodien alles abspielt: Es ist absolut wundervoll, die reine Freude. Die Freundlichkeit, mit der das alles rüberkommt, ich finde das sagt auch was über die Persönlichkeiten aus, die da hinter stehen.
tip Auf dem Album finden sich mit Songs wie "Up In It" in der Tat auch wieder hochmelodiöse Rocksongs.
Goss Klar, Popmusik ist per se nichts Schlechtes. Ich würde mir zum Beispiel wünschen, dass eine Band wie Arcade Fire einen Nummer-Eins-Hit hätte. Ich würde mir wünschen, dass Joanna Newsoms Songs in den Top Ten wären, dass David Bowie noch immer Nummer-Eins-Songs hätte. In der perfekten Welt wäre Björk in den Top Ten.
tip Ihr neuer Song ”King Richard TLH” hat auch das Zeug zum Hit allein durch seinen hyperharmonischen Chorus
Goss Stimmt, so kommt etwas Traumartiges hinein, ein sur- realer Ton, der vielleicht dann entsteht, wenn das Chaos und das Verrückte überhand nehmen.
tip Beschreiben Sie das genauer ?
Goss Mit dem Surrealen meine ich etwas in der Art wie das Bild der fallenden Türme des World Trade Center. Dinge, die du dir kaum im Kopf hättest ausmalen können -wie so was aussieht, wie das klingen könnte. Heute braucht man nur auf YouTube zu gehen, und du kannst es dir ansehen. Ich habe manchmal den Eindruck, dass unsere gesamte Welt irgendwie gefährlich vor sich hinbrummt. Eine Art Konzert aus individuellen Ängsten. Wenn beispielsweise ein Staatsführer ermordet wird, macht die Nachricht innerhalb von Sekunden die Runde um den Globus.
tip Spätestens seit Twitter dauert es in der Tat kaum länger
Goss Entsprechend schnell erfolgt die Reaktion. So was hat vor 100 Jahren wochenlang gedauert - allein die Kunde eines Attentats zu verbreiten. Monate wären vergangen bis zur Reaktion. Als Abraham Lincoln ermordet wurde, hat man in London vermutlich erst davon gehört, als das nächste Schiff dort anlegte. Jeder hatte Zeit, die Nachricht zu verdauen. Sie zu analysieren. Nachzuvollziehen, welche Auswirkungen das haben könnte. Heute gibt es kaum mehr Zeit bis zur Reaktion. Sie kommt unmittelbar. Das ist beunruhigend.
tip Ihre Songtexte klingen wie finstere Prophezeiungen.
Goss Zu diesem Album hatte ich unter anderen eine Grund- fantasie, eine Art Schlüsselszene: Du wachst eines Morgens auf - und es geht kein Geldautomat, nirgends. Alle Bankkonten sind eingefroren, weltweit. Vielleicht wegen eines kollektiven Kollapses, vielleicht ist es eine Sabotage der Computersysteme der Banken. Nichts geht mehr, keiner kriegt Geld, keiner Benzin. Wie lange würde es wohl dauern, bis der Erste das Feuer eröffnet? Sich sein Geld, sein Benzin holen würde? Es würde keine Minute dauern, glauben Sie mir.
tip Das klingt wie das Skript eines Endzeit-Kinofilms.
Goss Wissen Sie, was mich bei all diesen Albträumen tröstet? Erstens: Wenn der Tanker untergeht, sitzen wir wenigstens alle zusammen drin - we‘re all going down together. Zweitens: Letztlich haben wir es alle verdient, in den Arsch getreten zu werden. Dafür, wie unfassbar dämlich wir sind.
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