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Die grenzenlose Spielwiese des Chris Goss
Als wäre Weihnachten und Silvester gleichzeitig: Nach jahrelanger Bummelei läßt sich Chris Goss, viel- beschäftigter Kopf der mysteriösen Meister, tatsächlich dazu herab, auch mit seiner eigenen Band mal wieder ein Studio zu entern. Selbstredend wie immer in neuer Besetzung. Ein ums andere Mal angekündigt und ebenso oft verschoben, ist das im Alleingang mit Drummer John Leamy ausgetüftelte dritte Album ein verschrobener, aus dem Sumpf emporsteigender Rock-Monolith von höchstem Kultfaktor geworden.
Chris Goss, ein wahrer Hühne von Mensch und in Palm Springs - also mitten in der kalifornischen Wüste - beheimatet, verschmäht die Sonne. Folglich muß das Interview in einem abgedunkelten Hotelzimmer von Großraumkühlschrankformat stattfinden, mit nachtschwarzer Sonnenbrille auf der Nase. Als er mich munter in gebrochenem Deutsch willkommen heißt, bin ich doppelt verwundert. “Nein, ich dilettiere nur", klärt er mich lachend auf. “Mein Vater sprach fünf Sprachen fließend. Er war im zweiten Weltkrieg als Kampfflieger in Nordafrika stationiert und bombardierte mit seiner B-24 Stellungen in Italien. Einmal sollte er eine Mission übernehmen, wurde aber dann doch auf der Basis behalten, um Gefangene zu verhören. Genau an diesem Tag wurde sein Flieger abgeschossen. Es ist also überaus sinnvoll, andere Sprachen zu lernen. Ihm hat diese Fähigkeit den Arsch gerettet. Insbesondere uns bornierten Amerikanern würde ein bißchen mehr kulturelle Öffnung nach außen gut tun - wir können ja nicht mal vernünftig amerikanisch!" Die Geschichte der Masters Of Reality ist ein Buch mit sieben Siegeln, und sie wurde in diesem Heft schon öfter ausgiebig gewürdigt. Plattendeals kamen und gingen im gleichen Rhythmus, wie Bandmitglieder sich die Proberaumklinke in die Hand gaben - unter ihnen beim zweiten Album “Sunrise On The Sufferbus" von ‘93 Cream-Legende Ginger Baker an den Drums. Die aktuelle Reinkarnation besteht außer Allround-Musiker und Studiotüftler Goss nur noch aus Drummer John Leamy, der bereits bei der letzten Europatour vor einem Jahr dabei war und zudem Keys und Baß beigesteuert hat. “Es sollte schnell gehen, und umso mehr Leute du integrierst, desto schwieriger wird die zeitliche Koordinierung", erläutert Goss. “John weiß intuitiv, was mir vorschwebt - da klappt einfach die Kommunikation. Dabei ist er ja nicht nur ein phantastischer Schlagzeuger, sondern fungiert zusätzlich auch noch als firmeneigene Grafik-Abteilung, kümmert sich um das Artwork. Er ist übrigens auch für das Cover unseres Debüts verantwortlich. Ich freue mich riesig darauf, den neuen Kram live zu präsentieren. Die Recordings waren nett und dauerten nur einen Monat, aber jetzt hab’ ich wirklich Lust auf das begleitende ‘absurde Theater’!" Auf die Frage, ob Goss das Ganze als Band oder eher doch als eine Art grenzenlose Spielwiese seiner selbst betrachte, kekst der Mann vor Begeisterung schier aus: “Hey, das ist gut: Genau das ist es! Playground without limits - ‘PGWL’ -, ich werde dir das klauen, haha. ‘Pigwall’ - great! Ich mag die Masters als Forum meines individuellen Ausdrucks, fast alles daran ist von meiner Person durchdrungen. Aber live wird daraus eine Band. Hoffentlich. Erst gestern hab’ ich zu John gesagt: ‘Mein Traum wäre es, live so tierisch abzugrooven, so gut zu klingen, daß wir nach der Tour sofort zusammen ins Studio verschwinden können, um ein neues Album aufzunehmen.’ Und danach gleich wieder ‘ne Tournee anschließen. Ich bin dafür bekannt, daß ich die Zeitpläne anderer Leute durcheinanderwirble. Aber anders ist es derzeit auch kaum machbar, denn alle meine kreativen Freunde, die Leute von Kyuss oder den Earthlings etwa, haben ebenfalls ‘musikalische Leben’. Unglücklicherweise. Ich probiere mein Bestes sie loszueisen, aber natürlich bin ich nicht immer erfolgreich." Wer live außer den beiden letztlich dabeisein wird, war noch nicht in Erfahrung zu bringen - auch dieses Spielchen ist Masters of Reality-Freunden keinesfalls neu.
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Hoch und heilig wird versprochen, daß die nächste Scheibe bereits nächstes Jahr am Start sein soll. Zweifel sind indes mehr als angebracht: Die Vergangenheit hat eindrucksvoll bewiesen, wie lange man als MOR-Fan ausharren muß. Letzten Endes dürfte diese Band mit ihren drei regulären Alben in fast 19 Jahren so ziemlich das Schneckenmäßigste sein, was im gesamten Musikbusiness herumhupt. Warum diesmal die elendig lange Durststrecke? “Oh, da gab es viele Gründe. Erstens: Ich kam aus dem Produzieren nicht mehr raus - allein mit Ian Astbury von The Cult war ich sieben Monate ununterbrochen im Studio. Das hat sich total verselbständigt, und ehe man sich versieht, sind Jahre zum Teufel. Tja, und dann ist da ja noch die traurige Geschichte mit dem Studioalbum, das nie das Licht der Welt erblickt hat. Wir waren ‘95 bei ‘Epic’, und rate mal, was die Quatschköpfe meinten, als sie die Masterbänder bekamen? Sie suchten vergebens nach einer Single! Aber im nachhinein bin ich froh: Besser, ein Album kommt gar nicht raus, als daß man es bei vollem Bewußtsein willkürlich dahindümpeln oder gegen die Wand fahren sieht. Immerhin habe ich so über die Jahre die wirklich stärksten Songs zusammensuchen können." Als ich hinter der durchgängigen Langsamkeit ein Konzept zur Kultbildung wittere, wehrt Goss vehement ab. Er weiß allerdings genau, daß auch die eigene Betriebsnudelei ihren Teil beigetragen hat: “Ich gebe es hiermit öffentlich zu: In dieser Hinsicht bin ich ein verdammter Idiot! Als wir die blöde ‘Epic’-Scheibe aufnahmen, verbaselten wir ein ganzes Jahr im A&M-Studio - und das ist einer der teuersten Plätze, die du finden kannst. Ich bin ein sehr langsamer Lerner. Folglich habe ich nicht die geringsten Erwartungen an den Verkaufserfolg dieser Platte. Ich denke wirklich nicht, daß für Herrn Goss jetzt gleich der rote Teppich ausgerollt wird, weil er sich gütigerweise mal wieder dazu herabgelassen hat, neues Material zu veröffentlichen, haha. Es ist einfach, was es ist, und ich hoffe, es gefällt den Leuten. Mittlerweile scheine ich verstanden zu haben, daß schneller und billiger meist besser bedeutet - selbst, wenn andere dafür zahlen. Ansonsten wird alles zu einem großen, gefräßigen Scheißhaufen." Erscheinen wird “Welcome To The Western Lodge" in Europa und Japan über Goss’ eigenes Label ‘Brownhouse’, eine Tochter des holländischen Indies ‘Mascot’. Der Schritt zurück in den Bereich kleinerer, überschaubarer Strukturen ist dabei ein durchaus bewußter, wie Chris glaubhaft versichert: “Bislang waren Masters Of Reality-Platten immer das, was wir scherzhaft ‘easter-egg-hunts’ nennen: Du versteckst die Eier, ein paar Kids finden eins, und der Rest geht heulend nach Hause, haha. Das soll sich ändern: Ich kann unter Vertrag nehmen, wen ich will, und habe völlige Entscheidungsfreiheit in allen Belangen. Für den Rest der Welt bleiben die Rechte ebenfalls in meiner Hand, es ist ein wirklich großartiger Deal." Doch damit nicht genug der Unabhängigkeit - in seiner Heimat Amerika sind MOR-Alben zukünftig nur noch via Internet zugänglich: “Ich bin momentan in einer Lebensphase, in der ich schlicht bei keinem Label unter Vertrag sein will. Und ob du’s glaubst oder nicht: Der Verdienst ist besser denn je. Ich bin wirklich sehr froh über die generelle Entwicklung durch den Aufstieg des Internet, der irgendwann Plattenfirmen einfach überflüssig machen wird. Die Spielregeln ändern sich. Bevor sie ihre fetten Arme um uns schlingen, sollten wir die Chance ergreifen und selbst was auf die Beine stellen. It’s a good time for earning money..." Wenn man sich das neue Werk anhört, werden solche geschäftspolitischen Aspekte zweitrangig: Goss und Leamy haben tatsächlich einen runden Schulterschluß zwischen einst und jetzt, zwischen Sphärik und Heavyness, Beatles und Black Sabbath aus dem Ärmel gezaubert, der sich gewaschen hat. Verglichen mit dem blueslastigeren Vorgänger ist “Welcome To The Western Lodge" tendenziell um einige Jota härter und kantiger ausgefallen - “Moriah" z.B. hat ganz klar Wüstenrock-Flair. Andererseits jedoch gibt es da auch zutiefst 70er-beeinflußten, teils orchestralen, getragenen Momente, wie “Baby Mae" oder “Lover’s Sky". Und manchmal spürt man einen Hauch frühe Pink Floyd oder Queen. Bezüglich der Vibes, so Goss, erinnere ihn das neue Material an die Anfangsphase der Band in den frühen Achtzigern: “‘Calling Dr. Carrion’ ist wahrscheinlich der Song, der am ehesten wiedergibt, wie die Masters Of Reality ganz am Anfang geklungen haben: Billige Drummaschinen-Patterns, hinterhältige Keys, harte Gitarren. Nirgends kommen wir unseren eigenen Wurzeln so nahe wie hier. Es ist so ‘ne Art ‘Mini-Black-Comedy’. Unsere ersten wirklichen Studioaufnahmen haben wir dann 1986 gemacht, bevor Rick Rubin an uns herantrat. Jenes Material war und ist vielleicht das beste, was die Masters Of Reality je gemacht haben. Ich werde es wohl demnächst irgendwann veröffentlichen - schon allein, damit man mir glaubt. Bevor wir es damals als EP herausbringen konnten, war Rubin zur Stelle, und natürlich sahen wir darin die Chance, etwas von seinem Ruhm für uns zu reklamieren. Wir waren naiv und dachten: ‘Hey, alles was der tun muß, ist, dem Zeug seinen Segen erteilen, und schon sind wir reich!’ So richtig ging die Rechnung leider nicht auf, fürchte ich. Rubin setzte den Fokus klar auf das Blues-Element der Band, und im nachhinein würde ich sagen, das war so eine Art karnevalistische ZZ Top, haha. Versteh’ mich nicht falsch: Ich mag ZZ Top, aber es war zu gewollt, ging auf Kosten unserer mystischen, zeppelinesken Qualitäten. Dieses Album hier klingt endlich wieder wie Pre-Rubin-Masters Of Reality, und das macht mich glücklich. Es ist creepy hardrock, yeah."
Der Bandname wirkt im Hinblick auf die doch eher traumatische, versponnene Musik auch der aktuellen Songs geradezu paradox. Goss, einen Spliff im Mund, muß etwas weiter ausholen und versinkt gedanklich tief in den eigenen Roots: “
Den Namen habe ich 1981 aus einem einzigen Grund gewählt: um die damaligen Rock- Intellektuellen, die amerikanische Musik-Intelligenzia zu verarschen. Black Sabbath waren völlig out, und als Ozzy sein Comeback startete, standen diese Trottel da und bepißten sich vor Lachen. Ich aber konnte es kaum erwarten, daß tiefem Gewummere endlich eine Renaissance bevorstand. Ich war da einfach weniger absolut - es gab auch ‘ne ganze Menge ‘moderner’ Sachen, die mich Ende der Siebziger/Anfang der Achtziger beeinflußten, wie etwa Kraftwerk, Psychedelic Furs oder Joy Division. Warum nur, fragte ich mich, konnte man das alles nicht kombinieren, die besten Faktoren zusammenschmeißen? Damals war sowas in der Tat vollkommen verpöhnt. Warum durfte man nicht den Mähdreschersound von Black Sabbath und die Power Led Zeppelins mit Beatles-Harmonien, der Verschrobenheit von Kraftwerk und diesem ‘ennui’ von Joy Division mischen? Und mit dem ‘Cabaret-Faktor’ eines David Bowie abschmecken. Warum zum Teufel nicht?" Ja, warum eigentlich nicht, wenn dabei solch wundervoll-versponnene Musik entsteht. Von Zeit zu Zeit wird die immanente Düsternis und Depressivität durch einen musikgeworden Lichtstreif am Horizont konterkariert. Insbesondere “Baby Mae" scheint eine Sonderrolle zuzukommen. “‘Baby Mae’ stammt noch aus der ‘Epic’-Session", verrät Goss. “Ich fühlte, daß es an dieser Stelle gebraucht würde, um die Mitte der Platte ein wenig aufzuhellen. Nach ‘Take A Shot At The Clown’ ist man soweit, sich die Knarre in den Mund zu stecken - und bevor man den Abzug betätigt, schielt ‘Baby Mae’ um die Ecke, um einen davon abzuhalten. Ich verarbeite als Musiker Gefühle - und zwar verschiedene, eben weil ich kein eindimensionaler Trottel bin." Dabei fällt der für eine Indie-Produktion enorm druckreiche Klang der Platte auf. Gibt es einen besonderen Trick, um die Gitarren dermaßen sumpfig und fett hinzubekommen? “Nun..., meine Ohren, mein Engineer, tausend kleine Dinge, die zusammenkommen. Joints, haha! Runterstimmen, hochstimmen, Gitarren direkt ins Pult spielen. Es ist, wie wenn du ein Bild malst: Ich betrachte das ganze als einen Prozeß ohne klar definiertes Ende. Du fängst an zu malen, in so vielen Farben und Formen, wie du willst. Dann kannst du Wachs auftragen, das wieder abschaben oder erhitzen. Und schließlich pißt du drauf und legst es für zwei Tage in die Sonne. Ganz ähnlich nehmen wir auf."Wenn man das futuristische, Science-Fiction-mäßige Artwork von John Leamy mit all seinen obskuren Monitoren und Schaltern miteinbezieht, dann drängt sich die Vermutung auf, es gäbe auf dem Album so etwas wie ein durchgehendes Thema. Goss nickt: “Ja, der Titel bezieht sich schon auf den Grundtenor der Lyrics. Im Grunde bedeutet er sowas wie ‘Willkommen in dem Schlamassel, den ihr euch selbst eingebrockt habt.’ Ihr wolltet CNN, here you go! Ihr wolltet Fernsehen, Internet und Medien auf Schritt und Tritt - bitteschön, aber jetzt heult nicht rum. Ihr wolltet es nicht anders! Diese gigantische, billige, bunte Riesencollage, die wir Amerikaner ‘Gesellschaft’ nennen und die uns ins Gesicht grinst - das ist, was der Westen aus sich selbst gemacht hat. Auf Unterhaltungssendungen folgen ohne Unterbrechung Kriegsberichte und Sportnachrichten. Und danach der Samstagabend-Thriller. Eine unglaubliche Informationskakophonie prasselt täglich auf uns nieder." Wer wie Goss als Musiker quasi inmitten des kulturellen Schlamassels logiert, muß sich fast zwangsläufig die Frage stellen, wo das alles enden soll. Was hält er denn vom generellen Zustand seiner eigenen Branche? “Ich denke, es ist ein Haufen gequirlter Scheiße! Danke für die Boy-Groups, Great Britain! Hardrock existiert sozusagen nicht mehr, und wo er noch existiert, da ist er banal. Verdammt, man sehnt sich ja geradezu nach Bands wie Alice In Chains oder Soundgarden zurück. Das alles ist mausetot." Goss verweist in diesem Kontext auf eine Zeile des Openers “It’s Shit", wo es heißt “It’s shit / you don’t even wanna kiss it / It’s an art / it’s shit": “Man kann diese zirkuläre Bewegung auf alles mögliche beziehen. Alles kehrt wieder: Was einst als ein Haufen Scheiße galt, wird plötzlich wieder als Kunst gefeiert. Übermorgen ist es dann wieder Dreck. So geht das immer weiter, in immer schnellerem Tempo. Bis das System irgendwann kollabiert, weil alles eine bunte, klebrige, ätzende Kugel geworden ist. Nein danke, ohne mich!"
Klare Nebenwirkung dieser an sich bemerkenswert integren Verweigerungshaltung ist, daß diese großartige Band trotz des Kultstatus’ immer noch viel zu wenigen ein Begriff sein dürfte. Verkaufszahlen oder Medienrummel haben Goss halt noch nie sonderlich interessiert - und daran wird sich wohl auch erst einmal nichts ändern: “Im Grunde mag ich es, ein wenig am Rande zu stehen. Wenn mich wirklich der Kern der Musikszene anzöge, dann wäre ich jede verdammte Nacht in Hollywood auf der Piste. Ich würde im Viper Room abhängen und Schauspielerinnen vögeln, oder mich von Labeltypen auf dämlichen Parties in den Hollywood Hills vollsülzen lassen. Alles langweiliger Bullshit! Viel lieber gehe ich mit meinen Freunden jammen, fahre zu Josh Homme zum Gitarrespielen in die Wüste. Vielleicht ist das ein Fehler, vielleicht bin ich auch in dieser Hinsicht ein Idiot, weil ich nicht aggressiver auftrete, nicht genug Hände schüttele, kein tiefgefrorenes Grinsen parat habe und vor allem nicht genug Kohle einsacke. Aber das bin nicht ich. Mich findet man entweder im Proberaum, im Studio oder zuhause bei meiner Frau und meinen Katzen. Sicher nicht beim Lunch mit irgendeinem Business-Lutscher!" Eine slebstverständlich von VISIONS präsentierte Clubtour durch europäische Lande für den Frühherbst ist inzwischen bestätigt. Und das nächste Album gibt es dann in sieben Jahren. Oder so ähnlich.
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