© Visions August 1997

Autor: Thomas Baumann

www.visions.de

 

Sunrise on the Supergoss

Chris Goss trennt die Realität vom Zeitbegriff, indem ihm der Zeitpunkt als auch die Zeitdauer von Musik gleichgültig sind - ihn interessieren nur Treffsicherheit, Schärfe und Gefühl.
Über so viel Kyuss an allen Ecken der letzten Jahre geriet Chris Goss’ eigene Band nahezu in Vergessenheit. Doch kaum fällt der Name Masters Of Reality in der VISIONS-Redaktion, macht sich Freude breit (naja, wenn es sich um eine Auflösungsmeldung oder die üblichen Verzögerungen handelt wohl eher nicht - d. Red.). Das letzte MOR-Album, “Sunrise On The Sufferbus", stammt von 1992 und hing im Gegensatz zum unvergleichlichen selbstbetitelten Debüt (inoffiziell hieß das Album “Blue Garden" - d. Red.) stellenweise etwas durch, besonders im Songwriting. Hingegen war die Schlagzeugarbeit auf “Sunrise..." durchgängig Sahneware: Die Felle streichelte kein Geringerer als Ginger Baker, der Drummer von Cream und Alexis Korner; auch heute noch wippt und swingt die Platte an allen Ecken und Enden, wie in eine zeitlose Wärme eingehüllt. Doch Ginger stieg aus und es wurde still um MOR. Scheinbar aus dem Nichts tauchte die Band Ende `96 in Los Angeles im Viper Room wieder auf, spielt einen gediegenen Gig, nimmt ihn auch gleich auf - und MOR sind mit einem Schlag wieder da. “How High The Moon - Live At The Viper Room" ist rockig, bluesig und heavy wie eh und je. Chris hat wieder eine saubere Band zusammen, Bassist Googe stammt von der Urbesetzung und in Vic Indrezzo hat Ginger Baker einen würdigen Nachfolger gefunden.

Die Suite im Sheraton-Hotel in Austin, Texas, liegt in einem dämmrigen Licht, eine krumme Figur schläft auf dem rechten Bett, die Schlafstätte daneben hat Chris sich als sein ganz persönliches Lager eingerichtet. Fernbedienung, eisgekühltes Bier, Aschenbecher, Zeitungen, alles in bequemer Reichweite. Besonders im Liegen macht der Dicke mit dem Kojak-Fassonschnitt einen Eindruck wie der Bär Balu aus dem Dschungelbuch: gemütlich, zufrieden und lustig.
“Ob wir uns jemals aufgelöst haben?" Chris zündet sein eingedrehtes Piece an, saugt tief, denkt nach und atmet ruhig aus. Die Bierflasche macht Plopp. “Es gab einen Zeitpunkt, als es mir egal war, ob die Band existiert. Das war `89." Zwischen `89 und `97 liegen immerhin 8 Jahre! Tief, sehr tief schaufelt Chris in seinem Gedächtnis nach Zusammenhängen und atmet ein langgezogenes “Yeah..." aus. “Es war so: In den letzten zwei Jahren haben wir zwanzig Songs in verschiedenen Studios in Los Angeles aufgenommen, die haben wir erstmal nur gelagert. Ich habe viele andere Sachen produziert. Tja... und jetzt sind wir wieder da", intoniert er so enthusiastisch wie ‘Scheiße, die Fernbedienung ist im Arsch’. “Die Live-Platte haben wir im Viper Room in Los Angeles aufgenommen, die Studio-LP wird bald folgen, etwa im Herbst."
Masters Of Reality nehmen in zwei Jahren zwanzig Songs auf, spielen ein paar Mal, nehmen eben eine Live-Platte auf, um nur wenige Monate später eine längst fertige Studio-Scheibe herauszubringen - das heißt wahrhaftig, Plattenfirmen-Politik mit Cowboystiefeln zu treten. Daß die beiden Releases auf seinem alten Label ‘Chrysalis’ erscheinen werden, ist mehr als unwahrscheinlich. Die Live-Platte jedenfalls kommt definitiv via ‘Malicious Vinyl’.

“Ich weiß noch nicht genau, ob ich die Studio-Platte nicht doch selbst veröffentlichen soll, weil es eine Menge anderer Bands gibt, die ich gerne unter Vertrag nehmen würde. Chris Palmer zum Beispiel ist ein Singer/Songwriter, der früher mal bei I Love You war, mit denen ich gearbeitet habe. Er ist mein Lieblings-Songwriter und hat noch keinen Vertrag; er klingt so ähnlich wie dieser Belgier Mad Dog Loose. Die Firmen sind jedenfalls zu blind, um Chris´ Talent zu sehen. Ich begegne einer Menge von Musikern, die wirklich talentiert sind und dringend Verträge brauchen. Also ist es wahrscheinlich, daß ich eine eigene Firma aufmache."
Bei dem Konzert an diesem Tag war Chris sich seiner Sache entgegen dem Eindruck vom Publikum aus überhaupt nicht sicher. “Klar hat es Spaß gemacht; es war natürlich ein bißchen früh für einen Auftritt, es ging sehr schnell und war daher auch keine Show mit allem Drum und Dran. Normalerweise gibt es viele Parts mit akustischen Gitarren. Wir mußten uns heute entscheiden, ob wir das Material schnell und hart heraushauen. Eine Party um vier Uhr nachmittags, wo die Leute einfach von der Straße hereingelatscht kommen und auch noch Freibier kriegen? Naja, da sagten wir uns: Komm, hau’ drauf und nichts wie weg! Das groovigere Zeug ist für mich Nachtmusik."
Just nach diesem Gig stellte sich mir die Frage, ob Chris sich bei einem ‘Blind Gig’ im Zweifelsfall für eine Rockband oder eine Bluescombo entscheiden würde. “Der Blues würde mich interessieren." Als nämlich euer Debüt erschien, als Faith No More hochzischten, als Jane’s Addiction die Grenzpfeiler in der Rockmusik überrannten, bekamt ihr mit den ganzen anderen Gruppen das damalige Prädikat Crossover verliehen.
“Ich hasse das Wort Alternative, ich hasse das Wort Grunge. Sowas erfinden diese gackernden Assistenten von A&R-Typen. Die hocken in einem Büro in Hollywood, und weil sie jünger sind als ihre Chefs, denken diese, daß die Assistenten hip wären und greifen Ausdrücke auf, um pseudomäßig den Kontakt zur Straße zu behalten.
Diese schleimigen Pfeifen haben doch alle ‘nen Webfehler; wie die mich ankotzen! Sie stempeln einfach alles ab. Ich spiele in einer Rock’n’Roll-Band." Wie Chris das ausspricht: Raaacknrooul-Band - als würde er mit diesem Wort im Bett herumschmusen. Im übrigen besitzt er die faszinierende Fähigkeit, sich in Rage zu reden und dabei äußerlich cool wie ein Daiquiri zu bleiben.
“Meine ganze Lieblingsmusik ist nur Rock’n’Roll. Diese ganzen Bezeichnungen, die dem Ding aufgepfropft werden, wenn nur jemand eine Drum-Machine hinzufügt und denkt, daß er damit unerforschtes Land betritt! 1982 oder so hat Michael Jackson mit Eddie Van Halen an der Gitarre und einer Drum-Machine ‘Beat It’ aufgenommen. Also, wo ist da heute die Pointe? Jetzt, wo es Bono macht, ist es große Kunst oder was? Lächerlich. Es ist Rock’n’Roll, verstehst du? Fuck off, es ist nur Rock’n’Roll."
Da er ganz offenbar ein Freund des Handgemachten ist, fragt sich, ob es auf dem nächsten Album zusätzlich Samples geben wird. “Eher nicht, weil das jetzt jeder macht. Wenn ich eine Band im Studio produziere und sie mich fragt, ob man nicht ein paar Loops in einem Song haben könnte, verdrehe ich die Augen. Weil es einfach jeder macht. Mir ist das zu hoch, was soll daran so toll sein?" Wo und wie entsteht dann ein Masters Of Reality-Song? “Kommt darauf an. Manches kommt vom Jammen, eben wenn die Band in einen guten Groove kommt. Ich bin kein versierter Komponist, ich schreibe wirklich langsam. Ich spiele mit einem Song jahrelang herum, bevor ich ihn dann der Band zeige."

Nicht zuletzt deshalb ist die Geschichte von Masters Of Reality eine Geschichte voller Pausen. Nach ihrer Gründung verstrichen acht Jahre bis zur ersten LP, weitere vier Jahre bis zur zweiten. Umso verwirrender sind Goss’ Planungen, 1997 gleich zwei Alben auf den Markt zu bringen.
Wenn er so auf die derzeit gängigen Kompositions-, Arrangements- und Aufnahmetechniken schimpft, stellt sich die Frage, wo die Rockmusik in Zukunft überhaupt noch hin soll?
“Schwere Frage, aber ich weiß, was du meinst. Ähm... ich weiß bloß nicht, wozu sie überhaupt irgendwo hingehen soll; sie muß nur rocken. Für mich klingt Fats Domino heute genauso gut wie 1957! Es spielt doch echt keine Rolle: drei Akkorde, ein guter Schlagzeuger - fertig ist die Wurst. Es liegt auf der Hand, daß sich Akzente in Tempo und Beat von Jahr zu Jahr verschieben, damit es interessant bleibt. Aber das richtig gute Zeug ist immer body music. Die Kids werden immer spüren, was wirklich rockt, man muß ihnen da vertrauen."

Man kann diskutieren, inwiefern The Prodigy oder Marilyn Manson über diese Art von Gefühl verfügen. Was war die letzte Band, die live so richtig aufregend war? “Was soll ich sagen, es war Marilyn Manson! Uahahaha, wieher! Ich kann jeden gut verstehen, dem die Platte nicht so gefällt. Erst nachdem ich die Band live gesehen hatte, gefiel mir die Platte. Ich habe jedes ihrer L.A.-Konzerte in den letzten drei Jahren gesehen: Erstens ist es unfaßbar witzig, weil er ein klasse Entertainer ist, zweitens: wenn du 6.000 Kids zu ‘The Beautiful People’ herumspringen siehst... ich kann nur sagen: Das ganze Marilyn Manson-Konzert über mußte ich lächeln. Die Produktion des Albums ist etwas kalt, aber live holen sie alles raus, was drin ist. Die haben Feeling. Klingt lustig, aber das ist eine der ganz wenigen Bands, die mir gefallen... haa haa haaaaa." Diese Lache müßte es wirklich zu kaufen geben.

Eine der Hauptfragen zu Masters Of Realitys Gegenwart ist natürlich: Warum ist Ginger Baker nicht mehr dabei? “Zum einen gibt es da zwanzig Jahre Altersunterschied. Wenn ich mir vorstelle, selbst zwanzig Jahre älter zu sein, dann würde ich das nicht in dieser Weise tun wollen, wie ich es jetzt tue. Hihihi", kichert er in den Haschdunst hinein, der mittlerweile das abgedunkelte Hotelzimmer zu einer Höhle macht. “Ich selbst spiele einfach und denke nicht darüber nach. Musikalisch sind Ginger und ich klasse zurechtgekommen. Es war ein echtes Privileg, ihn als Trommler zu haben. Musikalisch war es unglaublich, diese Songs mit ihm zu jammen. Aber diesen Mann zu bitten, in einem Bus auf Tour zu gehen, vor Alice In Chains zu spielen und diesen ganze Quatsch - das ist der Unterschied. Er hatte es einfach nicht nötig. So eines Zeugs ist er wahrscheinlich wirklich überdrüssig. Er verbringt lieber seine Zeit mit der Pferdezucht und spielt Polo."
Letzte Frage: Hat John den richtigen Schritt getan von Kyuss zu Slo-Burn?
“Er fand bei seinem Schritt zurück in die Wüste drei junge Typen, die Kyuss-Fans sind und stellte als erster Ex-Kyuss-Mann eine neue Band auf die Beine. Das dürfte so ziemlich jeden überrascht haben. Er sitzt weder auf seinen Lorbeeren herum noch suchte er nach versprengten Resten von anderen Bands, die in der Gegend herumliegen. Das bewundere ich an ihm."