© Visions  1993

Autor: Harald Fricke

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Masters of Reality

Nur Saurier und Philosophen bewegen sich mit einer dermaßen bedenklichen Langsamkeit. Als beispielsweise Michael Jackson zwischen “Thriller” und “Bad” ganze fünf Jahre verstreichen ließ, dachte man schon, er wäre perdü und käme nicht wieder. Die Masters Of Reality waren hierzulande aber nicht einmal sonderlich bekannt, als sie nach ihrem 88er-Debüt bei Def American vollends abtauchten und erst in diesem Sommer wieder zum Vorschein kamen. Von der unendlichen Schwerelosigkeit der Wiedergeburt berichtete CHRIS GOSS dem Mann seines Vertrauens, Harald Fricke. Das Telefon klingelt früh bzw. spät. Während sich auf den Straßen Berlins die ersten Betrunkenen mit zechenden Kumpanen aus der Nacht an einer nahe gelegenen Imbiss-Bude verbrüdern, herrscht tiefdunkle Stille in der kalifornischen Wüste am anderen Ende der Welt, wo Chris Goss in diesem Augenblick den Telefonhörer in die Hand nimmt. Für ihn ist Mitternacht, er könnte also ebenso gut betrunken sein, wie die Penner draußen vor meiner Tür. Er ist nüchtern, und zumindest das verbindet uns an diesem Julimorgen

Es verwundert nur wenig, mit einem Musiker über Zeit zu philosophieren, der davon anscheinend im Überfluss besitzt. Mögen andere Gruppen gleich drei mal im Jahr zwecks Vinylausstoß die Studios unter Beschlag nehmen, hat Chris Goss die kreative Ruhe weg wie sonst nur die Schach spielenden Whisky-Brauer von Jack Daniels. Was aber ist sonst noch in den Masters Of Reality-freien Jahren zwischen `88 und `93 passiert? Goss holt weit aus und spricht bedächtig: “Die Band brach auseinander, das Label wechselte, ein neues Line-Up formierte sich, die Arbeit an den Aufnahmen zu “Sunrise On The Sufferbus” begann, und nebenbei hab ich als Produzent mit Gruppen wie I Love You gearbeitet.” Punkt. So einfach ist das: “Für Leute, die auf Musik von uns gewartet haben, mag da ein ziemlicher Bruch entstanden sein.” Den Platten hört man allerdings nichts davon an, dass diese Monsters kurzerhand gar auf dem HipHop-Label ‚Delicious Vinyl’ gelandet waren, ihren zünftig wirbelnden Trommler Vinnie Ludovico durch den Alt-Meister Ginger Baker ersetzten und an Stelle von Rick Rubin nun selbst die Mischpult-Regler kontrollieren.

Aber Goss gefällt die derzeitige Situation um einiges besser. Jetzt, da sie nicht mehr mit Def Americans Zugpferden wie etwa Slayer ins Horn des Schwermetall blasen müssen, spürt er wieder etwas mehr Atemluft. Sogar der Geist von Ozzy Osbourne ist von ihm gewichen: “Ich hatte noch niemals die Gelegenheit, Ozzy persönlich kennen zu lernen, selbst als Rubin plante, eine Platte mit ihm zu probieren. Vielleicht ist es ganz gut so. Ich kann mir mittlerweile eh nicht mehr vorstellen, aus welcher Richtung Ozzys Musik eigentlich mal gekommen ist. Ich selbst möchte jedenfalls nicht mehr mit Heavy Metal in Verbindung gebracht werden, wüsste ehrlich gesagt auch überhaupt nicht, warum. Das Ganze ist doch völlig überzogen und abgegessen.”

Vielleicht sind unsere Maters Of Reality tatsächlich immer falsch verstanden worden: Das Label, die Tattoos, der Ruf einer gnadenlosen Biker-Band, das alles interessiert auf “Sunrise On The Sufferbus” nicht mehr die Bohne. Statt dessen musiziert Goss auf Stücken wie “Jody Sings” oder der Liebeserklärung an Madonna so lauschig und entspannt daher, als hätte er sich mit Paul Mc Cartney zum Fünf-Uhr-Tee im Gartenhaus verabredet: “Ich mochte nie Teil dieser verschworenen Rock’n’Roll-Bruderschaft sein. Schließlich kenne ich die Brüder ja nicht einmal. Aber wenn du dir das ganze Geschäft anguckst – es ist wie ein Club mit einer Menge Mitglieder und die müssen einfach zusammen halten. Für mich ist Rock’n’Roll dagegen etwas wie Literatur.
Es gibt heute verschiedene Schulen, die man besuchen kann, um einen entsprechenden Ersatz für diese Literatur zu finden. Einige heißen ‚politically correct’, andere sind die Pop-Metal-Schüler. Doch was bringt das?”

Wollte man die Schule von Chris Goss beschreiben, würde man wahrscheinlich sehr bald auf der Kunstakademie landen. Das steinerne und monumentale “100 Years (Of Fears On The Wind)” ist jedenfalls nicht von der Nacht der lebenden Leichen inspiriert, sondern klingt nach einem nächtlichen Lagerfeuer im Kreise von King Crimson und Cream: “Ich schätze mal, das liegt am Mellotron-Sound, mit dem wir gearbeitet haben. Dabei bin ich gar nicht mal so ein großer Freund von King Crimson. Sie schienen mir immer ein wenig unterkühlt zu spielen. Bei mir funktioniert Musik zumindest sehr viel unkomplizierter.

Es gibt zwei Arten von Rock’n’Roll-Bands, die einen wissen, wie der “Jailhouse Rock” funktioniert, die anderen nicht. Da hilft kein großes Drumherum. Ich zähle King Crimson zu jenen Bands, die diesen Song eben nicht spielen können, aber das ist nach wie vor die Grundlage für Rock’n’Roll.”
Dann hätte es die Rockmusik aber im Grunde auch bei diesem einen schönen, kleinen Elvis-Liedchen belassen können. Man hätte sich bergeweise Verstärker-Türme, Kokshäufchen und Vinylhügel erspart.

Das weiß auch Chris Goss, aber in letzter Konsequenz will er dann doch lieber weitermachen – wenn auch mit einer etwas anderen Attitüde als Axl Rose und Konsorten. Über den Masters schwebt schließlich der Geist der Sixties – hier ein bisschen Beatliteratur, dort ein wenig Blumen und freie Liebe, und in der Mitte Ginger Baker am Schlagzeug: “Es ist ein großer Glücksfall, dass Ginger zu uns gestoßen ist. Wir verdanken seinem musikalischen Vermögen sehr viel. Aber da ist auch noch etwas anderes, das überaus wichtig ist. Ginger kommt aus einer Generation, in der Individualität eine immense Bedeutung hatte. Das wirkte sich wiederum auf die Musik dieser Zeit aus. Wenn sich Rock’n’Roll aber praktisch nur noch auf sich selbst beruft und damit bestätigt, ist die Sache im Grunde endgültig tot.”
Entweder bin ich schwer von Kape oder der Herr rennt bei mir offene Türen ein. Spielt denn nicht auch eine gehörige Portion Ironie mit ein, wenn man sich selbst 25 Jahre nach Hendrix, Woodstock und Timothy Leary in der gleichen Ideologie von `68 bewegt, während da draußen, ganz und gar ungerührt, die Dekaden verstreichen? “Es ist eine Kombination aus Ironie und Melancholie. Natürlich bin ich dem gegenüber nicht blind, was um mich herum passiert. Aber was zwingt mich schon, mitzuspielen? Nichts.”

Halt, halt, da wird natürlich auch im Reich der Masters gehörig am wirklichen Leben mitgemischt. Schon auf der ersten Platte hatte sich die Band auf ein ziemlich verkaufsträchtiges Image eingelassen: Surreale Covergestaltung, mystische Images, Tarot-Karten im Innencover, schicke Tattoos. Diesen ganzen Kult behält Goss doch auch auf “Sunrise” bei, wenn er Lieder über nackte Hexen trällert, die bei Vollmond auf der Wiese tanzen. Doch das ist für ihn nur Teil jenes Schicksals, das sich in seiner Ironie um das Leben gefügt hat: “Klar glaube ich an alles, da muss man gar keinen Unterschied zwischen Wirklichkeit und Phantasie machen.”
Goss hat inzwischen alle offenen Türen wieder zugeschlagen und bewegt sich allmählich in recht luftigen Höhen.
 Bevor wir uns nun aber mit Nietzsche-Zitaten die Nacht (oder den Tag) um die Ohren schlagen, gibt es noch immer einige Ungereimtheiten. New York zum Beispiel. Bis vor kurzem hat Goss noch in der Stadt gelebt, eine Band wie besagte I Love You produziert und den Klängen von Monster Magnet, manchmal auch Danzig gelauscht. Diese Gruppen sind alles andere als Außenseiter und stehen doch auch mit einem Bein in den sechziger Jahren. Nun ja, an seine frühere Szene will er jedoch partout keine Gedanken verschwenden: “New York ist schon seit geraumer Zeit tot, zumindest was die Rockmusik betrifft.
Es gibt Bands mit einer Einstellung zu Psychedelic und Drogen so wie Monster Magnet, doch das versucht nur mehr zu sein, als es tatsächlich ist. Dabei geht es nicht einmal mehr um blanke Ironie, das ist beinahe so eine Art augenzwinkerndes Sein-Ding-Durchziehen. Wenn man es aber ganz genau betrachtet, führt das alles zu nichts. Du schreibst gute Songs, das ist am Ende alles. Ein guter Song kann 200 Jahre alt sein oder ist eben die Nirvana-Single vom letzten Jahr. Und der Rest kann zum Teufel gehen.” Nicht ganz. Der Rest verkauft weiterhin die meisten Platten. Aber das stört Goss bekanntlich nicht...